Politische Utopien jenseits des Kapitalismus

Die Verlagswelt scheint nur noch von Dystopien zu leben. Vier druckfrische Titel namhafter deutschsprachiger Autoren zeigen das: „Europa in der Krise“, „Die letzten Tage Europas. Wie wir eine gute Idee versenken“, „Die Menschheit schafft sich ab“ und „Die Welt aus den Angeln“. Andere Einschätzungen scheint es kaum mehr zu geben auf den aktuellen Büchertischen. Dass Terror, Kriegsexzesse (beileibe nicht nur in Syrien), Naturkatastrophen und Politrabauken wie Donald Trump, Tayyip Erdogan, Wladimir Putin, Marine Le Pen, Nicolas Maduro oder Kim Jong Un objektiv die Ereignisse in der Welt dominieren, unterstreicht: So kann es nicht weitergehen! Es braucht eine Politik des gemeinsamen Ganzen und nicht von (lobbyistisch gepushten) Partikularinteressen.

Da war es erfrischend, dieser Tage die Wiener Politologin Tamara Ehs (im Bild) zu hören. Die mehrfach ausgezeichnete Wissenschafterin – Jahrgang 1980 – arbeitet u.a. über Politische Utopien jenseits des Kapitalismus, welcher seit dem Ende des Sowjetsozialismus 1989 die Welt beherrscht. Manche bejubeln die privatwirtschaftliche Profitmaxime als das Ende der Geschichte, als die Krönung menschlicher Entwicklung. Als ob wir es nicht von Anfang an besser wissen hätten müssen, zeitigt genau dieses kurzsichtig-primitive Vorteils- und Bequemlichkeitsstreben einen Gutteil der oben skizzierten Dominanzen. Volkswirtschaftlich beobachten wir nachweislich eine immer größere Spreizung zwischen Situierten und Elenden, und zwar weltweit. Zweitere als schweigende Mehrheit nützen Extrempopulisten als Ventil. In den Worten von Dr.Ehs: Die Extrempopulisten geben Unterprivilegierten das „Gefühl der Sichtbarkeit, Identität, Gleichheit, ein Sinn- und Machtgefühl“. Gemeinsam zeigt man’s „denen da oben“.

Ehs hält breite Partizipation in Form etablierter Bürgerräte für den konstruktivsten Ausweg. Die antiken Griechen regierten ihre Stadtstaaten bereits mit ausgewählten Bürgerräten auf Zeit. Thomas Morus greift in seiner „Utopia“ von 1516 das Modell wieder auf. In Irland bereitet ein Council aus 99 demographisch ausgewählten Bürgern seit 2012 regelmäßig die Basis auf für Verfassungsthemen wie derzeit die Abtreibungsbestimmung. Ausgehend von der „Planungszelle Wuppertal“, nützen seit den 1970ern Gemeinden und Länder auch im deutschsprachigen Raum das Lösungspotenzial repräsentativ ausgesuchter Bevölkerungsvertreter. Vorreiter in Österreich ist Vorarlberg (vermutlich wegen der Schweiz-Nähe und deren repräsentativen Demokratie). Organisationsberater und Bürgerräte-Pionier  Jim Rough hat es dort etabliert so wie an vielen anderen Orten. Seine „Wisdom Councils“ kommen mit zwölf Volksrepräsentanten aus (wie zwölf Geschworene, die zwölf Apostel…). Die Ergebnisse der modellhaften Beteiligungsgruppen bringen in der Regel mehrheitsfähige Durchbrüche, die auch halten.

Mir schwebt die Etablierung von Bürgerräten im Zuge des Kulturhauptstadtprojekts Salzburg2024 vor. Auf Bundesebene befürworte ich die Idee (Utopie), den Bundesrat durch einen  Bürgerrat auf Zeit zu ersetzen. Das würde wenigstens die zweite Kammer repräsentativer machen. Sonst sitzen auch dort nur Beamte und sonstige Privilegierte mit Parteinähen, die ein kleiner Politklüngel dafür auserkoren hat. Berichte mir Nahestehender über die gängige Praxis der Listenerstellung vor Wahlen lassen grausam tief in eitle Machtseelen blicken.

Bürgerräte sind freilich eine schwache Alternative, solange der Staat das Wirtschafts- und Finanzmonopol behält. Erst wenn Investitions-und Steuerentscheidungen aus den Ministerkanzleien hinauswandern in repräsentative Beteiligungsgruppen – zumindest flankierend -, ergibt das demokratischen Gewinn.

Dem Argument, (Neue) Medien würden als Vierte Macht stark genug sein als Gegengewicht, halte ich fehlende Repräsentation und schwindende Unabhängigkeit entgegen. In den wirtschaftlich bedrängten „alten“ Medien Print, TV und Radio haben Insertionskunden zunehmend das Sagen; sie werden als Stakeholder hofiert und gewogen gehalten. Sogar Wissenschaftsredakteure sind von ihren Verlegern nachweislich aufgefordert, bei ihrer Themenwahl Anzeigenkunden zu bevorzugen. Die vergleichsweise billigen „neuen“ Medien Facebook, WhatsApp, Twitter etc. wiederum sind willkommene Spielwiesen für Populisten (Trump!). Der Zyklus der manipulierten Verdummung lässt sich dort im Knopfdrucktempo steuern ohne zu großen Widerspruch. Es regt auch kaum mehr auf.

Referenden zu forcieren wie in der Schweiz ist ebenfalls fragwürdig. Referenden sind Heimspiele für Demagogen. Wie gerade die Schweiz zeigt, gewinnt dort durchwegs das (finanzkräftigere) Establishment. Wenige Ausnahmen bestätigen die Regel nur.

Um es sinngemäß mit Tamara Ehs zu sagen: Es braucht Utopisten und deren frische Ideen. Sie trainieren den Möglichkeitssinn.